Du hast es wieder nicht geschafft. Schon wieder vergessen, schon wieder zu spät, schon wieder den Faden verloren. Du siehst dich um und alle anderen scheinen es hinzubekommen. Nur du nicht. Die Stimme in deinem Kopf sagt: Du bist nicht gut genug. Du bist faul. Du bist unfähig. Und nach all den Jahren glaubst du ihr.
Wenn du mit ADHS lebst, kennst du diese Stimme wahrscheinlich gut. Sie ist nicht angeboren. Sie wurde geformt durch tausende kleine Momente. Jedes Mal, wenn jemand den Kopf schüttelte. Jedes Mal, wenn du trotz aller Anstrengung gescheitert bist. Jedes Mal, wenn dir gesagt wurde, du müsstest dich nur mehr anstrengen. Diese Momente haben sich in dein Selbstbild eingebrannt.
Das Tragische daran ist, dass die Kritik oft gut gemeint war. Eltern, Lehrer, später Vorgesetzte wollten helfen. Sie dachten, du brauchst nur mehr Disziplin, mehr Motivation, mehr Willen. Was sie nicht wussten: Dein Gehirn funktioniert anders. Du hast nicht versagt, weil du es nicht versucht hast. Du hast gekämpft, jeden Tag, und trotzdem hat es nicht gereicht. Dieses Erleben hinterlässt tiefe Spuren.
Warum ADHS das Selbstwertgefühl untergräbt
Menschen mit ADHS erhalten im Durchschnitt deutlich mehr negative Rückmeldungen als neurotypische Menschen. Laut Forschung hören Kinder mit ADHS bis zu 20'000 negative Kommentare mehr bis zu ihrem 12. Lebensjahr. Das sind 20'000 Mal: Das hast du falsch gemacht. Das hast du vergessen. Warum kannst du nicht einfach.
Diese Erfahrungen formen das Selbstbild. Du lernst, dass du anders bist, und anders bedeutet in dieser Gesellschaft oft: falsch. Du entwickelst Überzeugungen über dich selbst, die sich wie Tatsachen anfühlen, obwohl sie nur Interpretationen sind. Ich bin chaotisch. Ich bin unzuverlässig. Ich bin schwierig.
Dazu kommt der ständige Vergleich mit anderen. Du siehst, wie leicht anderen Dinge fallen, die für dich Berge sind. Du siehst nicht die Anstrengung, die du investierst. Du siehst nur das Ergebnis, und das Ergebnis ist oft: Die anderen schaffen es, du nicht. Dieser Vergleich ist unfair, aber er passiert automatisch. Und er zerstört das Selbstwertgefühl Stück für Stück.
Die innere Kritikerin
Nach Jahren externer Kritik entwickeln viele Menschen mit ADHS eine laute innere Kritikerin. Sie übernimmt die Stimmen von aussen und macht sie zu deiner eigenen. Sie ist immer da, kommentiert jeden Fehler, jede Unzulänglichkeit, jedes Versagen. Und sie ist gnadenlos.
Diese innere Stimme ist nicht die Wahrheit. Sie ist ein Schutzmechanismus, der irgendwann entstand. Vielleicht dachtest du, wenn du dich selbst kritisierst, bevor es andere tun, tut es weniger weh. Vielleicht dachtest du, streng zu dir selbst sein würde dich besser machen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die innere Kritikerin macht alles schwerer.
Selbstkritik aktiviert den Stressmodus im Gehirn. Bei ADHS ist die Stressregulation ohnehin beeinträchtigt. Die emotionale Dysregulation verstärkt negative Gefühle. Ein kleiner Fehler wird zur Katastrophe. Ein Rückschlag zum Beweis, dass du wertlos bist. Die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller.
Ein wichtiger Unterschied
Selbstkritik ist nicht dasselbe wie Selbstreflexion. Selbstreflexion schaut neutral auf Verhalten und überlegt, was besser werden kann. Selbstkritik greift den Kern deiner Person an. Achte darauf, welche Stimme gerade spricht.
Das Impostor Syndrom
Viele Menschen mit ADHS erleben das Impostor Syndrom besonders stark. Du fühlst dich wie ein Hochstapler, der jeden Moment auffliegen wird. Erfolge werden zu Zufällen oder Glück erklärt. Komplimente werden abgewehrt oder nicht geglaubt. Die Angst, entlarvt zu werden, begleitet dich ständig.
Das Impostor Syndrom hat bei ADHS besondere Wurzeln. Du weisst, wie viel du kompensierst. Du weisst, wie anstrengend es ist, normal zu wirken. Du weisst, dass das, was andere sehen, nur die Oberfläche ist. Dahinter steckt das Chaos, das niemand sehen darf. Natürlich fühlst du dich wie ein Hochstapler, wenn du das Gefühl hast, eine Rolle zu spielen.
Aber hier ist die Wahrheit: Alle kämpfen mit etwas. Alle haben Bereiche, in denen sie kompensieren. Der Unterschied bei ADHS ist, dass die Kompensation mehr Energie kostet. Das macht dich nicht zum Hochstapler. Das macht dich zu jemandem, der mehr leistet, als andere sehen.
Rejection Sensitive Dysphoria
Ein Begriff, der das Selbstwertproblem bei ADHS beschreibt, ist Rejection Sensitive Dysphoria, also extreme Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung. Selbst kleine Andeutungen von Kritik oder Ablehnung können intensive emotionale Reaktionen auslösen. Ein falscher Blick kann den ganzen Tag ruinieren.
Diese Empfindlichkeit ist nicht eingebildet. Sie ist eine Folge der neurologischen Besonderheiten bei ADHS und der vielen Ablehnungserfahrungen im Leben. Das Gehirn ist konditioniert, überall Gefahr zu wittern. Und Ablehnung war oft genug real, dass die Alarmbereitschaft Sinn macht.
Das Problem ist, dass diese Empfindlichkeit zu Vermeidungsverhalten führen kann. Du traust dich nicht, Risiken einzugehen. Du meldest dich nicht zu Wort. Du zeigst nicht, was du kannst. Die Angst vor Ablehnung hält dich klein, und das verstärkt wiederum das Gefühl, nicht gut genug zu sein.
Der erste Schritt: Verstehen
Der erste Schritt zu einem gesünderen Selbstwertgefühl ist Verstehen. Verstehen, dass dein niedriges Selbstwertgefühl kein Zufall ist. Es ist das Ergebnis von Jahren der Erfahrung mit einem Gehirn, das in einer Welt funktionieren muss, die nicht für es gemacht ist.
Das bedeutet nicht, dass du dich als Opfer sehen sollst. Es bedeutet, dass du aufhören kannst, dich selbst zu beschuldigen. Die Schwierigkeiten, die du hattest, waren real. Aber sie sagen nichts über deinen Wert als Mensch aus. Sie sagen nur etwas über die mangelnde Passung zwischen deinem Gehirn und den Anforderungen.
Die späte Diagnose bei vielen Erwachsenen macht dieses Verstehen besonders wichtig. Jahre oder Jahrzehnte ohne Erklärung für die eigenen Schwierigkeiten hinterlassen tiefe Spuren. Die Diagnose kann ein Wendepunkt sein, aber sie heilt die alten Wunden nicht automatisch.
Neue Überzeugungen aufbauen
Alte Überzeugungen lassen sich nicht einfach löschen. Aber sie lassen sich mit neuen Erfahrungen überlagern. Das braucht Zeit und bewusste Arbeit. Es geht darum, neue Geschichten über dich selbst zu erzählen, die der Realität näher kommen.
Beginne damit, deine ADHS Stärken zu erkennen. Kreativität, die Fähigkeit, unter Druck zu funktionieren, unkonventionelles Denken, Hyperfokus auf interessante Themen. Diese Stärken sind real. Sie werden nur oft übersehen, weil der Fokus auf den Defiziten liegt.
Sammle Beweise gegen deine negativen Überzeugungen. Wenn die innere Stimme sagt, du bist unfähig, frag dich: Was habe ich trotz ADHS geschafft? Die Antwort wird dich vielleicht überraschen. Du hast überlebt. Du hast gekämpft. Du hast Wege gefunden. Das zählt.
Führe ein Erfolgsjournal
Schreibe jeden Tag drei Dinge auf, die du geschafft hast. Egal wie klein. Das trainiert das Gehirn, Erfolge wahrzunehmen statt nur Misserfolge. Mit der Zeit verändert das die Perspektive.
Selbstmitgefühl entwickeln
Das Gegenmittel zur inneren Kritikerin ist Selbstmitgefühl. Das bedeutet nicht, dich selbst zu bemitleiden oder Ausreden zu suchen. Es bedeutet, dich so zu behandeln, wie du einen guten Freund behandeln würdest, der mit denselben Problemen kämpft.
Wenn ein Freund dir erzählen würde, dass er sich wertlos fühlt, weil er etwas vergessen hat, was würdest du sagen? Wahrscheinlich nicht: Ja, du bist wirklich unfähig. Du würdest trösten, relativieren, erinnern, was alles gut läuft. Diese Freundlichkeit verdienst du auch von dir selbst.
Selbstmitgefühl ist keine Schwäche. Forschung zeigt, dass Menschen mit hohem Selbstmitgefühl resilienter sind, mehr Risiken eingehen und aus Fehlern besser lernen. Die innere Kritikerin macht nicht stärker. Sie macht schwächer.
Professionelle Unterstützung
Tiefe Selbstwertprobleme lassen sich nicht immer alleine lösen. Wenn negative Überzeugungen über dich selbst dein Leben stark beeinträchtigen, kann professionelle Hilfe sinnvoll sein. Kognitive Verhaltenstherapie ist besonders wirksam, um negative Denkmuster zu identifizieren und zu verändern.
Auch der Austausch mit anderen Betroffenen kann helfen. In Selbsthilfegruppen erlebst du, dass du nicht allein bist. Dass andere dieselben Kämpfe kämpfen. Diese Verbindung kann heilsam sein für ein Selbstbild, das sich lange als falsch und anders definiert hat.
Ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen ist ein Prozess. Es geht nicht darum, perfekt zu werden oder keine Fehler mehr zu machen. Es geht darum, zu erkennen, dass dein Wert nicht von deiner Leistung abhängt. Du bist genug, genau so wie du bist. Mit ADHS, mit Schwächen, mit allem.