Emotionale Dysregulation: Wenn Gefühle überfluten

Intensive Gefühle, schnelle Wechsel, schwer zu kontrollieren. Bei ADHS sind Emotionen oft lauter als bei anderen.

ruhig wütend traurig okay

Ein falscher Blick und du bist am Boden zerstört. Eine gute Nachricht und du schwebst auf Wolke sieben. Zehn Minuten später ist alles wieder anders. Deine Gefühle sind wie eine Achterbahn, und du sitzt drin ohne Bremse. Andere scheinen ihre Emotionen im Griff zu haben, während du von deinen überrollt wirst.

Wenn du das kennst, bist du nicht überempfindlich. Du bist nicht dramatisch. Du hast nicht einfach schlechte Laune. Was du erlebst, hat einen Namen: emotionale Dysregulation. Und es ist eines der häufigsten, aber am wenigsten besprochenen Symptome von ADHS.

Das Frustrierende daran ist, dass du es selbst nicht verstehst. Du weisst, dass deine Reaktion übertrieben ist. Du siehst es, während es passiert. Aber du kannst es nicht stoppen. Das Gefühl ist einfach da, riesig und überwältigend, und es lässt sich nicht wegrationalisieren. Und danach kommt oft die Scham. Schon wieder zu stark reagiert. Schon wieder die Kontrolle verloren.

Was ist emotionale Dysregulation?

Emotionale Dysregulation bedeutet, dass die Fähigkeit, Gefühle zu regulieren, beeinträchtigt ist. Laut ADHSpedia erleben Menschen mit ADHS Emotionen oft intensiver als andere. Die Gefühle kommen schneller, sind stärker und halten länger an. Der Weg zurück zur emotionalen Baseline dauert länger.

Das betrifft alle Emotionen, nicht nur negative. Freude kann genauso überwältigend sein wie Wut oder Trauer. Die Begeisterung über etwas Neues kann alles andere verdrängen. Die Enttäuschung über eine Kleinigkeit kann sich anfühlen wie das Ende der Welt.

Wichtig zu verstehen: Das ist keine Charakterschwäche. Es ist Neurologie. Das ADHS Gehirn verarbeitet Emotionen anders. Die Bereiche, die für emotionale Regulation zuständig sind, funktionieren nicht optimal. Du hast nicht weniger Selbstkontrolle als andere. Du hast mehr zu kontrollieren.

Wie sich emotionale Dysregulation zeigt

Die Ausprägungen können sehr unterschiedlich sein. Manche Menschen erleben vor allem intensive negative Emotionen. Andere haben Schwierigkeiten mit allen Gefühlen. Häufige Muster sind:

Nicht dasselbe wie bipolare Störung

Emotionale Dysregulation bei ADHS wird manchmal mit bipolarer Störung verwechselt. Der Unterschied: Bei ADHS wechseln die Stimmungen schnell und werden durch äussere Ereignisse ausgelöst. Bei bipolarer Störung dauern die Phasen länger und sind nicht immer an Auslöser gebunden. Eine genaue Diagnose ist wichtig.

Warum ADHS Gehirne Emotionen anders verarbeiten

Das Gehirn hat verschiedene Systeme für die Verarbeitung von Emotionen. Eines davon ist das limbische System, das Gefühle erzeugt. Ein anderes ist der präfrontale Kortex, der diese Gefühle reguliert und einordnet. Bei ADHS ist die Verbindung zwischen diesen Systemen beeinträchtigt.

Wie bei der Dopaminregulation allgemein funktioniert auch die emotionale Regulation bei ADHS anders. Das Gefühl entsteht, aber die Bremse greift nicht schnell genug. Die Einordnung passiert nicht reibungslos. Das Gefühl übernimmt, bevor der rationale Teil des Gehirns eingreifen kann.

Dazu kommt, dass Menschen mit ADHS oft ein Leben lang negative Rückmeldungen erhalten haben. Kritik, Enttäuschung, Versagen. Diese Erfahrungen hinterlassen Spuren. Das Nervensystem wird empfindlicher. Die emotionalen Reaktionen werden stärker, weil die alten Wunden noch nicht geheilt sind.

Auswirkungen im Alltag

Emotionale Dysregulation betrifft fast alle Lebensbereiche. In Beziehungen kann sie zu Konflikten führen, weil Partner die intensiven Reaktionen nicht verstehen. Im Beruf kann sie problematisch sein, wenn die Emotionen in unpassenden Momenten durchbrechen. Sozial kann sie isolierend wirken, weil man sich schämt oder Angst hat, die Kontrolle zu verlieren.

Viele Menschen mit ADHS entwickeln Strategien, um ihre Emotionen zu verstecken. Sie ziehen sich zurück, wenn sie merken, dass etwas hochkommt. Sie vermeiden Situationen, die emotional werden könnten. Das funktioniert kurzfristig, aber langfristig führt es zu Erschöpfung und Isolation.

Manchmal führt emotionale Dysregulation auch zum ADHS Freeze. Die Emotionen werden so überwältigend, dass das Gehirn abschaltet. Nichts geht mehr. Der Freeze ist eine Art Notbremse, wenn die emotionale Überflutung zu gross wird.

Strategien für den Umgang

Die gute Nachricht: Auch wenn du die grundlegende Veranlagung nicht ändern kannst, kannst du lernen, besser mit emotionaler Dysregulation umzugehen. Das erfordert Übung und Geduld, aber es ist möglich.

Der erste Schritt ist Bewusstsein. Lerne, deine emotionalen Muster zu erkennen. Wann wirst du besonders reaktiv? Was sind deine typischen Auslöser? Wie fühlt es sich an, kurz bevor eine Emotion überhandnimmt? Je früher du merkst, dass etwas hochkommt, desto mehr Möglichkeiten hast du, einzugreifen.

Körperliche Strategien können helfen, die physiologische Reaktion zu unterbrechen. Tiefes Atmen aktiviert das parasympathische Nervensystem und wirkt beruhigend. Kaltes Wasser im Gesicht kann eine akute emotionale Reaktion unterbrechen. Bewegung hilft, überschüssige Energie abzubauen.

Zeitverzögerung ist eine weitere hilfreiche Technik. Wenn du merkst, dass eine starke Emotion hochkommt, versuche, nicht sofort zu reagieren. Zähle bis zehn. Verlasse den Raum. Schreibe auf, was du fühlst, anstatt es auszusprechen. Die Emotion wird nicht verschwinden, aber sie wird etwas nachlassen, und du kannst bewusster entscheiden, wie du reagieren willst.

Selbstmitgefühl üben

Sei nicht zu hart zu dir selbst, wenn du die Kontrolle verlierst. Das passiert. Es ist Teil von ADHS. Selbstkritik verstärkt negative Emotionen nur. Behandle dich so, wie du einen guten Freund behandeln würdest, der gerade etwas Schwieriges durchmacht.

Kommunikation mit anderen

Es kann hilfreich sein, den Menschen in deinem Leben zu erklären, was emotionale Dysregulation ist. Nicht als Entschuldigung, sondern als Erklärung. Wenn dein Partner, deine Freunde oder Kollegen verstehen, dass deine intensiven Reaktionen neurologisch bedingt sind, können sie anders damit umgehen.

Du kannst auch Code Wörter oder Signale vereinbaren. Ein Zeichen, das bedeutet: Ich merke, dass ich gerade emotional werde. Ich brauche einen Moment. Das gibt dir die Möglichkeit, dich zurückzuziehen, ohne die Situation eskalieren zu lassen.

Nach einem emotionalen Ausbruch kann es sinnvoll sein, das Gespräch später nochmal aufzugreifen. Wenn du wieder ruhig bist. Dann kannst du erklären, was passiert ist, und gemeinsam überlegen, wie ihr in Zukunft damit umgehen wollt.

Professionelle Unterstützung

Wenn emotionale Dysregulation dein Leben stark beeinträchtigt, kann professionelle Hilfe sinnvoll sein. Kognitive Verhaltenstherapie kann helfen, Denkmuster zu erkennen und zu verändern, die emotionale Reaktionen verstärken. Dialektisch behaviorale Therapie wurde speziell für Menschen mit Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation entwickelt.

Auch ADHS Medikamente können bei emotionaler Dysregulation helfen. Wenn die grundlegende Aufmerksamkeitsregulation verbessert wird, verbessert sich oft auch die emotionale Regulation. Das ist nicht bei allen Menschen so, aber bei vielen.

Entspannungstechniken und Achtsamkeitsübungen können ebenfalls unterstützend wirken. Sie trainieren die Fähigkeit, Emotionen zu beobachten, ohne sofort auf sie zu reagieren. Das braucht Zeit und Übung, aber es kann einen echten Unterschied machen.

Das Wichtigste zum Mitnehmen

Emotionale Dysregulation ist ein echtes und häufiges Symptom von ADHS. Du bildest es dir nicht ein. Du bist nicht zu empfindlich. Dein Gehirn verarbeitet Emotionen anders, und das macht den Umgang damit schwieriger.

Aber du bist deinen Emotionen nicht hilflos ausgeliefert. Mit Bewusstsein, den richtigen Strategien und bei Bedarf professioneller Unterstützung kannst du lernen, besser damit umzugehen. Nicht perfekt. Nicht immer. Aber besser. Und das ist genug.