Du sitzt da. Vor dir liegt alles, was du tun musst. Die Aufgaben sind klar. Die Zeit läuft. Aber du bewegst dich nicht. Es ist nicht so, dass du nicht willst. Es ist, als wäre eine Glaswand zwischen dir und dem, was getan werden muss. Du siehst es, du verstehst es, aber du kannst es nicht erreichen. Dein Körper fühlt sich schwer an. Dein Geist ist wie in Watte gepackt. Die Zeit vergeht, und du schaust ihr dabei zu, unfähig einzugreifen.
Das ist der ADHS Freeze. Und wenn du ihn kennst, weisst du, wie qualvoll er sein kann. Von aussen sieht es aus wie Faulheit oder Desinteresse. Von innen fühlt es sich an wie ein Gefängnis. Du bist gefangen in deinem eigenen Kopf, während die Welt draussen weiterläuft und du nicht mitmachen kannst.
Das Schlimmste daran ist vielleicht die Scham. Du weisst, dass du funktionieren solltest. Dass andere es irgendwie schaffen. Dass es keine Entschuldigung gibt. Und doch kannst du nicht. Also schämst du dich. Und die Scham macht den Freeze nur schlimmer.
Was ist der ADHS Freeze?
Der ADHS Freeze ist ein Zustand der mentalen und oft auch körperlichen Lähmung, der auftritt, wenn das Gehirn mit zu vielen Reizen, Anforderungen oder Emotionen überflutet wird. Es ist eine Reaktion auf Überforderung, bei der das Nervensystem quasi abschaltet. Ähnlich wie bei der bekannten Stressreaktion Kampf oder Flucht gibt es auch die dritte Option: Erstarren. Das ist der Freeze.
Bei Menschen mit ADHS ist der Freeze besonders häufig, weil das Gehirn ohnehin schon mit der Reizverarbeitung kämpft. Laut ADHSpedia ist die Schwelle zur Überforderung bei ADHS niedriger als bei neurotypischen Menschen. Was andere noch bewältigen können, kann für ein ADHS Gehirn schon zu viel sein.
Der Freeze ist nicht Faulheit. Er ist nicht mangelnde Disziplin. Er ist eine neurologische Reaktion auf einen Zustand, den das Gehirn als bedrohlich oder überwältigend empfindet. Das zu verstehen ist der erste Schritt, um mit dem Freeze umzugehen.
Wie fühlt sich der Freeze an?
Menschen beschreiben den ADHS Freeze auf verschiedene Weisen, aber es gibt wiederkehrende Muster. Viele berichten von einem Gefühl der Lähmung, als würde der Körper nicht auf Befehle reagieren. Der Gedanke, eine Aufgabe zu beginnen, ist da, aber die Verbindung zwischen Gedanke und Handlung ist unterbrochen.
Andere beschreiben es als einen Nebel im Kopf. Die Gedanken werden langsamer, unklarer, schwerer zu greifen. Manchmal ist es, als würde man durch zähen Sirup waten. Alles ist verlangsamt und gedämpft.
Oft ist der Freeze begleitet von intensiven Emotionen. Angst, Scham, Frustration, Hoffnungslosigkeit. Diese Emotionen verstärken den Zustand weiter, denn sie sind selbst überwältigend. Es entsteht ein Teufelskreis: Der Freeze erzeugt negative Gefühle, die wiederum den Freeze verstärken.
Manche Menschen beschreiben auch eine Art Dissoziation während des Freeze. Ein Gefühl, nicht ganz präsent zu sein, neben sich zu stehen, die Situation von aussen zu beobachten. Das ist ein Schutzmechanismus des Gehirns, das versucht, sich vor der Überforderung zu schützen.
Der Unterschied zu Prokrastination
Prokrastination und Freeze werden oft verwechselt, sind aber unterschiedlich. Bei Prokrastination gibt es oft noch Aktivität, nur eben die falsche. Du räumst auf statt zu arbeiten, du scrollst durch Social Media, du machst irgendetwas anderes. Beim Freeze gibt es gar keine Aktivität mehr. Du sitzt fest. Du kannst weder die richtige noch die falsche Sache tun.
Was löst den Freeze aus?
Es gibt verschiedene Auslöser für den ADHS Freeze, und sie können von Person zu Person unterschiedlich sein. Häufige Auslöser sind:
- Zu viele Aufgaben gleichzeitig
- Unklare oder unstrukturierte Anforderungen
- Emotionale Überforderung oder Stress
- Perfektionismus und Angst vor Fehlern
- Entscheidungsüberflutung, zu viele Optionen
- Sensorische Überreizung durch Lärm, Licht oder andere Reize
- Erschöpfung und Schlafmangel
- Kritik oder gefühlte Ablehnung
Oft ist es nicht ein einzelner Auslöser, sondern eine Kombination aus mehreren Faktoren. Das Fass läuft über, und plötzlich geht gar nichts mehr. Deshalb kann der Freeze manchmal scheinbar aus dem Nichts kommen, auch bei Aufgaben, die eigentlich nicht so schlimm sind. Es ist nicht nur die aktuelle Situation, sondern alles, was sich vorher angestaut hat.
Was du während des Freeze tun kannst
Der schwierigste Teil am Freeze ist, dass genau die Fähigkeit zur Handlung blockiert ist, die du bräuchtest, um etwas zu tun. Trotzdem gibt es Strategien, die helfen können.
Das Wichtigste zuerst: Akzeptiere den Zustand. Kämpfe nicht dagegen an. Der Kampf gegen den Freeze verstärkt ihn nur, weil er zusätzlichen Stress erzeugt. Sag dir selbst: Das ist gerade so. Das ist okay. Das wird vorbeigehen. Diese Akzeptanz nimmt dem Freeze einen Teil seiner Macht.
Versuche, aus dem Kopf in den Körper zu kommen. Der Freeze ist oft ein Zustand des Gefangenseins im Kopf. Körperliche Empfindungen können helfen, dich wieder zu erden. Halte einen Eiswürfel in der Hand. Trink ein Glas kaltes Wasser. Steh auf und geh ein paar Schritte, wenn du kannst. Atme bewusst und tief. Diese einfachen körperlichen Handlungen können manchmal den Bann brechen.
Wenn du einen Menschen in der Nähe hast, dem du vertraust, kann dessen Anwesenheit helfen. Body Doubling ist eine bewährte Strategie bei ADHS, und sie kann auch beim Freeze wirksam sein. Die Präsenz einer anderen Person gibt deinem Gehirn einen externen Ankerpunkt.
Senke die Anforderungen radikal. Wenn du nicht arbeiten kannst, versuche nicht, zu arbeiten. Versuche stattdessen, eine einzige winzige Sache zu tun. Nicht die ganze Aufgabe, nur den allerersten Schritt. Nicht die E-Mail schreiben, nur das Programm öffnen. Nicht das Zimmer aufräumen, nur einen Gegenstand aufheben. Manchmal reicht diese eine kleine Handlung, um den Motor wieder anzuwerfen.
Wie du dem Freeze vorbeugen kannst
Langfristig ist es sinnvoller, dem Freeze vorzubeugen, als ihn zu bekämpfen, wenn er schon da ist. Das bedeutet, dein Leben so zu gestalten, dass die Überforderung seltener eintritt.
Achte auf frühe Warnsignale. Der Freeze kommt selten aus dem Nichts. Meist gibt es Vorboten: zunehmende innere Unruhe, Reizbarkeit, Schwierigkeiten, dich zu konzentrieren, ein Gefühl des Getriebenseins. Wenn du diese Signale bemerkst, ist es Zeit, gegenzusteuern, bevor der Freeze eintritt.
Reduziere die Reizflut. Wie bei der Reizüberflutung beschrieben, ist es wichtig, die Menge an Stimuli zu kontrollieren, die auf dich einprasseln. Das kann bedeuten, Kopfhörer zu tragen, dein Handy wegzulegen, in einem ruhigeren Raum zu arbeiten, oder Pausen einzubauen.
Strukturiere deine Aufgaben. Grosse, unklare Aufgaben sind Freeze Einladungen. Brich sie in kleine, konkrete Schritte auf. Nicht Präsentation vorbereiten, sondern Folie 1 erstellen. Nicht Wohnung aufräumen, sondern Küchentisch abräumen. Je konkreter und kleiner der nächste Schritt ist, desto weniger überwältigend wirkt er.
Baue regelmässige Pausen ein. Das ADHS Gehirn braucht mehr Erholung als du denkst. Wenn du pausenlos durcharbeitest, läuft das Fass irgendwann über. Geplante Pausen verhindern das. Die Pomodoro Technik oder ähnliche Methoden können dabei helfen.
Selbstmitgefühl ist keine Schwäche
Viele Menschen mit ADHS sind extrem hart zu sich selbst. Aber Selbstkritik verschlimmert den Freeze. Versuche, mit dir selbst so zu sprechen, wie du mit einem guten Freund sprechen würdest. Der Freeze ist kein Charakterfehler. Er ist ein Symptom eines Gehirns, das auf seine Weise auf Überforderung reagiert.
Wenn der Freeze häufig auftritt
Wenn du regelmässig in den Freeze Zustand gerätst, ist das ein Zeichen dafür, dass etwas grundsätzlich angepasst werden muss. Vielleicht sind deine Lebensumstände zu überfordernd. Vielleicht brauchst du mehr Unterstützung. Vielleicht ist es Zeit, professionelle Hilfe zu suchen.
Therapie kann helfen, die Muster zu verstehen, die zum Freeze führen, und Strategien zu entwickeln, um damit umzugehen. Medikamente können für manche Menschen die Reizschwelle erhöhen und den Freeze seltener machen. ADHS Coaching kann praktische Strukturen vermitteln, die Überforderung reduzieren.
Es ist keine Schande, Hilfe zu brauchen. Der Freeze ist real, er ist belastend, und du musst ihn nicht alleine bewältigen.
Das Wichtigste zum Mitnehmen
Der ADHS Freeze ist eine neurologische Reaktion auf Überforderung. Er ist nicht Faulheit, nicht Schwäche, nicht mangelnde Disziplin. Er ist dein Gehirn, das auf seine Art sagt: Das ist zu viel. Wenn du den Freeze verstehst, kannst du aufhören, dich dafür zu verurteilen. Und wenn du aufhörst, dich zu verurteilen, hast du schon einen wichtigen Schritt getan.
Lerne deine Auslöser kennen. Lerne die Warnsignale erkennen. Baue Strukturen in dein Leben, die Überforderung reduzieren. Und sei sanft zu dir selbst, wenn der Freeze trotzdem passiert. Er wird vorbeigehen. Er geht immer vorbei. Und du bist mehr als dieser Zustand.