Es ist 23 Uhr. Du bist müde, todmüde eigentlich. Der Tag war anstrengend, du hast kaum noch Energie. Du legst dich ins Bett, schliesst die Augen, und dann passiert es: Dein Gehirn schaltet nicht ab. Es schaltet hoch. Plötzlich denkst du an das peinliche Gespräch von vor drei Jahren. An die E-Mail, die du noch schreiben musst. An was du morgen alles erledigen solltest. An das Universum und den Sinn des Lebens.
Willkommen im nächtlichen Gedankenkarussell. Wenn du ADHS hast, kennst du das wahrscheinlich gut. Die Stille der Nacht, die für andere Menschen beruhigend wirkt, wird für dich zum Problem. Ohne äussere Ablenkung richtet sich dein Gehirn nach innen. Und dort ist es laut. Sehr laut.
Das Frustrierende: Du weisst, dass du schlafen solltest. Du weisst, dass du morgen früh raus musst. Du weisst, dass Schlafmangel alles schlimmer macht. Aber dieses Wissen hilft nicht. Je mehr du versuchst einzuschlafen, desto wacher wirst du. Und irgendwann schaust du auf die Uhr und es ist 2 Uhr nachts. Schon wieder.
Warum Schlafprobleme bei ADHS so häufig sind
Bis zu 80 Prozent der Menschen mit ADHS haben irgendwann in ihrem Leben Schlafprobleme. Das ist kein Zufall. ADHS und Schlaf hängen auf mehreren Ebenen zusammen.
Da ist zunächst die Hyperaktivität. Bei Erwachsenen zeigt sie sich oft nicht mehr als körperliche Unruhe, sondern als geistige Aktivität. Das Gehirn ist ständig aktiv, springt von Gedanke zu Gedanke, kann nicht zur Ruhe kommen. Tagsüber fällt das weniger auf, weil äussere Reize ablenken. Nachts, in der Stille, wird es zum Problem.
Dazu kommt die emotionale Dysregulation. Gefühle, die tagsüber verdrängt wurden, melden sich nachts zurück. Sorgen werden grösser, Ängste lauter, Selbstzweifel präsenter. Das Gehirn verarbeitet emotional, was tagsüber keinen Platz hatte. Kein guter Zeitpunkt zum Einschlafen.
Viele Menschen mit ADHS haben auch einen verschobenen Tag Nacht Rhythmus. Sie sind natürliche Nachteulen, werden abends erst richtig wach. Um 22 Uhr, wenn andere müde werden, startet bei ihnen der zweite Wind. Das passt nicht zu einer Welt, die um 8 Uhr am Schreibtisch erwartet.
Der Teufelskreis
Schlafprobleme und ADHS verstärken sich gegenseitig. Wer schlecht schläft, ist am nächsten Tag unkonzentrierter, reizbarer und impulsiver. Genau die Symptome, die ADHS ohnehin mit sich bringt. Schlafmangel macht also alles schlimmer, was bei ADHS sowieso schon schwierig ist.
Gleichzeitig macht ADHS das Einschlafen schwerer. Die Gedanken kreisen, die innere Unruhe bleibt, das Gehirn findet keinen Ausschalter. So entsteht ein Teufelskreis: Schlechter Schlaf verschärft ADHS Symptome, die wiederum den Schlaf verschlechtern.
Das erklärt, warum viele Menschen mit ADHS chronisch übermüdet sind. Es ist nicht Faulheit, wenn sie morgens nicht aus dem Bett kommen. Es ist das Ergebnis von Jahren mit gestörtem Schlaf. Der Körper holt sich, was er braucht, auch wenn der Wecker klingelt.
Mehr als eine Stunde zum Einschlafen
Über 70 Prozent der Erwachsenen mit ADHS brauchen mehr als eine Stunde zum Einschlafen. Das ist keine Einbildung und kein Versagen. Es ist ein dokumentiertes Muster, das mit der Neurologie von ADHS zusammenhängt.
Das Gedankenkarussell stoppen
Die grösste Herausforderung beim Einschlafen mit ADHS ist das Gedankenkarussell. Es dreht sich und dreht sich, und jeder Versuch, es zu stoppen, scheint es nur schneller zu machen. Aber es gibt Strategien, die helfen können.
Eine Möglichkeit ist, die Gedanken auszulagern. Bevor du ins Bett gehst, schreibe alles auf, was dir durch den Kopf geht. To Do Listen, Sorgen, Ideen, alles. Das Signal an dein Gehirn: Du musst dir das nicht mehr merken. Es ist aufgeschrieben. Du kannst morgen weitermachen.
Auch Atemtechniken können helfen. Eine einfache Methode: Atme vier Sekunden ein, halte vier Sekunden, atme sechs Sekunden aus. Diese verlangsamte Atmung aktiviert das parasympathische Nervensystem und signalisiert dem Körper: Es ist Zeit zum Runterfahren.
Manche Menschen mit ADHS finden es einfacher einzuschlafen, wenn sie etwas zum Zuhören haben. Ein Hörbuch, ein Podcast, leise Musik. Das gibt dem Gehirn etwas, worauf es sich fokussieren kann, anstatt eigene Gedankenspiralen zu produzieren. Wichtig: Der Inhalt sollte interessant genug sein, um abzulenken, aber nicht so spannend, dass er wach hält.
Die Schlafumgebung anpassen
Für Menschen mit ADHS, die oft reizempfindlich sind, ist die Schlafumgebung besonders wichtig. Kleine Störfaktoren, die andere gar nicht bemerken, können das Einschlafen unmöglich machen.
Dunkelheit hilft. Selbst kleine Lichtquellen, der Standby Punkt am Fernseher, das Ladegerät, das Strassenlicht durch die Vorhänge, können störend wirken. Verdunkelungsvorhänge oder eine Schlafmaske können einen echten Unterschied machen.
Auch Geräusche sind ein Thema. Manche brauchen absolute Stille, andere finden Stille unerträglich. Weisses Rauschen oder Naturgeräusche können helfen, störende Umgebungsgeräusche zu überdecken und dem Gehirn einen gleichmässigen akustischen Hintergrund zu geben.
Die Temperatur spielt ebenfalls eine Rolle. Ein kühles Schlafzimmer, idealerweise um die 18 Grad, fördert den Schlaf. Der Körper senkt seine Kerntemperatur beim Einschlafen, und eine kühle Umgebung unterstützt diesen Prozess.
Die Bildschirmfalle
Du kennst das wahrscheinlich: Es ist spät, du solltest schlafen, aber du scrollst noch schnell durch dein Handy. Nur noch fünf Minuten. Aus fünf werden fünfzig. Das blaue Licht des Bildschirms unterdrückt die Melatoninproduktion und signalisiert dem Gehirn: Es ist noch Tag.
Für Menschen mit ADHS ist die Bildschirmfalle besonders gefährlich. Das Handy bietet endlose Stimulation, genau das, was das ADHS Gehirn sucht. Der nächste interessante Inhalt ist nur einen Swipe entfernt. Die Zeit vergeht unbemerkt, die Zeitblindheit verstärkt das Problem.
Eine Stunde vor dem Schlafengehen Bildschirme zu vermeiden, ist der klassische Rat. Für viele mit ADHS ist das unrealistisch. Ein Kompromiss: Nachtmodus aktivieren, die Helligkeit reduzieren, und bewusst weniger stimulierende Inhalte wählen. Keine aufregenden Spiele, keine kontroversen Diskussionen, keine Serie, bei der du unbedingt wissen willst, wie es weitergeht.
Das Handy aus dem Schlafzimmer verbannen
Ein radikaler, aber wirksamer Schritt: Das Handy nachts ausserhalb des Schlafzimmers laden. Ein normaler Wecker ersetzt die Weckfunktion. Die Versuchung zu scrollen fällt weg, wenn das Handy nicht greifbar ist.
Routinen und Rituale
Das ADHS Gehirn liebt Routinen, auch wenn es sie schwer aufbauen kann. Eine feste Abendroutine signalisiert dem Körper, dass es Zeit zum Schlafen ist. Der Schlüssel ist Wiederholung: Dieselben Handlungen in derselben Reihenfolge, jeden Abend.
Das kann einfach sein: Zähne putzen, Gesicht waschen, Pyjama anziehen, kurz lesen, Licht aus. Oder aufwendiger: Eine Tasse Tee, Dehnübungen, Tagebuch schreiben, Meditation. Wichtig ist nicht, was genau du tust, sondern dass du es regelmässig tust. Mit der Zeit wird die Routine zum Auslöser für Müdigkeit.
Auch die Schlafenszeit selbst sollte möglichst konstant sein. Das fällt bei ADHS schwer, besonders am Wochenende, wenn keine äussere Struktur den Rhythmus vorgibt. Aber ein regelmässiger Schlaf Wach Rhythmus ist einer der wichtigsten Faktoren für guten Schlaf.
Wenn nichts hilft
Manchmal reichen Verhaltensänderungen nicht aus. Wenn Schlafprobleme trotz aller Strategien bestehen bleiben, kann professionelle Hilfe sinnvoll sein. Ein Arzt kann abklären, ob zusätzliche Schlafstörungen wie Schlafapnoe oder Restless Legs Syndrom vorliegen, die bei ADHS häufiger auftreten.
Interessanterweise berichten viele Menschen, dass ihre ADHS Medikamente auch den Schlaf verbessern. Das klingt paradox, bei Stimulanzien, aber für manche ist es so. Die innere Unruhe geht zurück, die Gedanken werden ruhiger, Entspannung wird möglich. Bei anderen verschlechtern Medikamente den Schlaf. Das ist individuell verschieden und sollte mit dem behandelnden Arzt besprochen werden.
Auch therapeutische Ansätze können helfen. Kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie ist gut erforscht und wirksam. Sie hilft, ungünstige Denkmuster und Verhaltensweisen rund um den Schlaf zu erkennen und zu ändern.
Tiefenentspannung lernen
Das Gedankenkarussell zu stoppen ist schwer, wenn das Gehirn nie gelernt hat, wie Entspannung sich anfühlt. Viele Menschen mit ADHS kennen nur zwei Zustände: An und Aus. Der Übergang, das sanfte Herunterfahren, ist fremd.
Hier können gezielte Entspannungstechniken helfen. Hypnose und Tiefenentspannung trainieren das Nervensystem, von Anspannung in Ruhe zu wechseln. Das ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann. Je öfter du übst, desto leichter fällt der Wechsel.
Professionell angeleitete Tiefenentspannung durch Hypnose kann ein Einstieg sein, um diesen Zustand kennenzulernen und später selbst abrufen zu können.
Sei geduldig mit dir
Schlafprobleme bei ADHS sind frustrierend. Sie beeinflussen jeden Aspekt des Lebens. Und sie lassen sich nicht über Nacht lösen, ironischerweise. Es braucht Zeit, neue Gewohnheiten zu etablieren und herauszufinden, was für dich funktioniert.
Sei nicht zu hart zu dir selbst, wenn es nicht sofort klappt. Jede Nacht ist ein neuer Versuch. Und selbst kleine Verbesserungen, zehn Minuten schneller einschlafen, einmal weniger aufwachen, summieren sich über die Zeit.
Dein Gehirn arbeitet anders. Das bedeutet auch, dass du vielleicht andere Lösungen brauchst als andere Menschen. Experimentiere, passe an, finde deinen eigenen Weg zum besseren Schlaf. Er existiert, auch wenn er nicht der Standardweg ist.